Johann Mießner
Unsere Erlebnisse seit Oktober 1943
Am 1. Oktober 1943 stellte ich bei meiner Behörde den Antrag auf Pensionierung zum 1. April 1944. Bis dahin erhielt ich
Urlaub, da meine Schule nach Sudetendeutschland evakuiert war.
Am 22.November 1943, 20.10 Uhr wurden wir in der Suarez-Str.32 total ausgebombt. Das von mehreren Phosphor-Bomben
getroffene Haus brannte in einer reichlichen Stunde bis auf die Kellerräume herunter. Die Schnelligkeit des Abbrennens
hinderte uns daran, irgend etwas aus unserer Wohnung retten zu können. Erst am anderen Morgen, während ich nach dem
Reichskanzler-Platz ging, um zu sehen, ob Wolfgang´s Haus noch steht, gelang es seiner Frau, mit Hilfe einiger Männer,
unsere wenigen Habseligkeiten unter Lebensgefahr aus dem brennenden Keller zu retten. Nach meiner Rückkehr schafften
wir die wenigen Sachen zu Wolfgang hinauf, dessen Haus und Wohnung zwar großen Schaden erlitten hatte, aber doch noch
bewohnbar war. Durch Wolfgang erhielten wir erst ein Unterkommen bei Bekannten in Babelsberg, wo er ein Ausweich-Zimmer
gemietet hatte; nach 3 Tagen übersiedelten wir in die leerstehende Wohnung eines Freundes in der Karlsbader-Strasse in
Grunewald. Dort besuchte uns ganz plötzlich Siegfried, der auf Urlaub gekommen war. Mit ihm zusammen fuhren wir nach
Fischerkathen, weil wir die Absicht hatten, über Weihnachten dort mit Anneliese und Helgard zusammen zu sein. Anneliese
hatte im Einvernehmen mit Wolfgang indessen für einen längeren Aufenthalt dort Wohnung bei Bartz gemietet. Aus dem
längeren Aufenthalt wurde ein Dauer-Aufenthalt, da Anneliese der baldigen Geburt eines Kindes entgegensah und meine
Frau ihr in der Zeit zur Seite stehen wollte. Wir zogen in eine Zwei-Zimmer-Wohnung bei Witte, und lebten dort zwar
beengt, aber ruhig.
Von hier aus fuhr ich alle vierzehn Tage nach Berlin, um meine Tätigkeit als Gauchorleiterund als Dirigent meiner Chöre
ausüben zu können. Ich nahm die beschwerlichen Reisen in den überfüllten Zügen gern in Kauf, weil mir diese Tätigkeit
bei meiner sonstigen Arbeitslosigkeit ein grosses Bedürfnis war, und mir bei der grossen Anhänglichkeit meiner
Sängerinnen und Sänger, die trotz der unglaublich schwierigen Verhältnisse eifrig zur Sache hielten, grosse Freude
machte. Dazu kam noch, dass ich durch die Hilfsbereitschaft meiner Sängerinnen und Sänger manches mit nach
Fischerkathen nehmen konnte, was uns oben fehlte.
Das waren schöne, ruhige Monate, sowohl im Sommer als auch im Winter dort oben an der See.
Im Dezember 1944 verlebte Siegfried seinen Genesungs-Urlaub nach seiner schweren Verwundung im Osten oben in Treptow
(1) und in Fischerkathen(2). Im Januar 194 fuhr ich mit ihm zusammen nach Berlin. Am letzten Sonntag im Januar, kurz vor
Siegfried´s Abreise nach Norwegen, sassen wir bei Wolfgang und besprachen Gegenwart und Zukunft. Da die militärische
Lage im Osten immer bedrohlicher wurde, bat mich Siegfried beim Abschied, falls wir in Erfahrung bringen sollten,
dass der Pommern-Wall nicht hält, mit seiner Familie in jedem Falle unter allen Umständen so schnell als irgend
möglich entweder per Bahn oder per Schiff oder wenn es sein muss, auch zu Fuss Fischerkathen zu verlassen, um ja
nicht den Russen, die er im Osten genügend kennen gelernt hatte, in die Hände zu fallen. Ich versprach ihm das auch,
leider waren die Verhältnisse stärker als unser Wille.
Bereits auf der Heimfahrt in Stettin(3), dann auch in Altdamm(4) und Cammin(5), lernte ich das große Elend der ost- und
westpreussischen Flüchtlinge kennen, und mir graute vor einem gleichen Schicksal. Nach sehr beschwerlicher
umständlicher Fahrt kam ich glücklich bei den Meinen wieder an und besprach die Lage mit ihnen und anderen Bekannten.
Gleich nach meiner Rückkehr setzte ein furchtbares Schneewetter ein. Bald waren wir ohne Licht, ohne Radio, ohne Bahn
und ohne Post, also von der Welt abgeschnitten. Anneliese besprach unsere Lage und Absicht mit dem Freund Siegfried´s,
dem Fischer Emil Kasten, der alles vorbereitet hatte, seine Familie und uns in seinem Motorboot an die mecklenburgische
Küste zu bringen, sobald die Wetterverhältnisse eine Flucht über das Wasser zuliessen. Um sofort parat zu sein, packten
wir unser Sturmgepäck in drei Koffer und zogen hinauf ins Fischerhaus. Das Schicksal war uns nicht gnädig, der Sturm
legte sich nicht, und verschiedene Deeper und Kolberger Schiffe mit Flüchtlingen waren bereits gekentert; wir mussten
weiter warten. Am letzten Sonntag im Februar bekamen wir, die wir in unserem abgelegenen Winkel niemals glaubten,
etwas vom Kriege sehen zu werden, den ersten furchtbaren Eindruck von ihm durch unsere vor den Russen flüchtenden
Soldaten aus Deep(6) und Kolberg(7). Lettische SS und Garnisionstruppen aus Kolberg und Deep hatten die Landstrasse über
Kirchhagen(8) gemieden und sich einen Weg durch unseren Wald gebahnt. Der Sand und der Wald hinderten die Truppen am
schnellen Vorwärtskommen. Um nur das nackte Leben zu retten, sprengten sie ihre steckengebliebenen Wagen, warfen ihre
Waffen und Munition, auch ihre Lebensmittelvorräte in den Wald. Es ist unmöglich, zu schildern, wie der Wald aussah.
Die weggeworfenen Lebensmittel, die wir sammelten, konnten den erschütternden Eindruck dieses Erlebnisses nicht
verwischen.
Diese Flucht unserer Truppen, die auch in unseren Häusern unbeschreibliche Spuren hinterliessen, war unser Verhängnis:
Unsere Truppen hatten den nachfolgenden Russen den Weg in unsere Abgeschiedenheit gewiesen. Zwei Tage darauf
überschwemmten russische Reitertrupps unseren Ort, und damit war unser Schicksal besiegelt. Wir wurden völlig
ausgeplündert, Uhren und Schmucksachen wurden uns geraubt, aus unserem Hause wurden wir verjagt. Die meisten Frauen
wurden geschän-det, Anneliese war dabei gut weggekommen, da sie gerade krank war. Wir fassten in unserer Verzweiflung
den Plan, gemeinsam ins Wasser zu gehen. Anneliese und Helgard nahmen vorher Veronal, um nicht im letzten Augenblick
in Versuchung zu kommen, sich durch Schwimmen wieder zu retten. Am Vormittag des 17. März gingen wir zum Strande, und
Trude, mit Horstel auf dem Arm, lief auf dem schnellsten Wege in die stürmische See, ehe bei Anneliese und Helgard das
Schlafpulver seine Wirkung getan hatte. Ein furchtbarer Aufschrei von Anneliese brachte mich zu Besinnung, und ich
holte beide wieder aus dem Wasser heraus. Inzwischen waren auch Russen an den Strand gekommen und hatten Anneliese und
Helgard nach dem Fischerhaus zurückgetragen. Wir brachten den Mut und die Kraft nicht auf, diesen Versuch zu
wiederholen und ergaben uns in unser Schicksal. Am anderen Tage zogen wir hinunter ins Dorf, um dort abzuwarten,
was mit uns weiter geschehen würde.
Da unser ganzes Küstengebiet zur Operationszone erklärt wurde, mussten wir nach zwei Tagen alle den Ort verlassen und
durften und konnten nur das Allernotwendigste mit auf die Flucht nehmen. Wir sollten 20 km landeinwärts ziehen, und
zwar bis ins Lager bei Plathe(9). Wir kamen an diesem Tage nur bis Kirchhagen(8) und blieben dort bei Bekannten von
Annelieses Schwiegereltern. Am anderen Tage ging es mit unseren Habseligkeiten weiter bis nach Carnitz(10). Dort blieben
wir in einer Scheune, etwa acht Tage, und ernährten uns von Kartoffeln und auf der Kaffeemühle gemahlenem Korn. Dort
fing meine Frau bereits an, zu hungern, weil sie Angst hatte, dass wir anderen nicht satt werden könnten. Wir wurden
durch Russen weitergeführt und kamen nach Parpart(11), wo wir auch zuerst in einer Scheune Unterkunft fanden. Am frühen
Morgen stand ich auf, um mich nach einem anderen Unterkommen umzu-sehen, Dabei begegnete mir ein Freund unseres Hauses,
der Kantor Jirchot aus Kirchhagen bei demselben Vorhaben. Wir fanden gemeinsam zwei unbewohnte Zimmer in dem Hause
eines dort geflohenen Verwandten von J. und belegten sie für uns.
Hier war der Aufenthalt einigermassen erträglich, denn wir waren wenigstens vor Wind und Wetter geschützt, fanden auch
ein Sofa, Matratzen und sogar ein Unterbett vor. Wir richteten uns hier einigermassen häuslich ein. Der Aufenthalt
hier wurde länger als wir zu hoffen wagten. Die Russen machten keine Anstalten, uns weiter-zuführen, weil sie
Arbeitskräfte brauchten zur Herstellung eines Flugplatzes. Wir fanden auch hier genügend Nahrungsmittel. Kartoffeln,
Korn und Vieh zum Schlachten, besonders Schweine. Trotzdem wurde der Aufenthalt durch die allnächtlichen
Belästigungen durch die Russen zu einer Hölle. Dazu kam, dass Frauen und Männer bei der Planierung des schweren
Ackerbodens sehr schwere Arbeit zu verrichten hatten, noch dazu bei dem nasskalten Wetter. Für uns wurde die Lage in
dem Augen-blick erträglicher, als Anneliese von dem Kommandanten Jascha Dankow zur Leitung der Schneiderstube
ausgewählt worden war. In ihm, einem älteren, gebildeten Ingenieur aus Moskau, lernten wir einen wirklich edlen
Menschen kennen, der für uns alle in wunderbarer Weise sorgte und unsere Lage in hochherziger Weise zu verbessern
suchte.
Leider zeigte sich hier sehr bald, dass Gertrud in Carnitz durch ihr Hungern den Grund zu einer schrecklichen
Krankheit gelegt hatte; sie konnte keine Nahrung mehr zu sich nehmen und behalten, der Magen nahm nichts mehr an.
Trotzdem vertrat sie Anneliese am Ostersonntag bei schrecklichem Wetter auf dem Flugplatz und musste sich krank
niederlegen, um nicht wieder aufzustehen. Auch Annelieses Horstel, der gerade ein Jahr alt war, war schwer erkrankt.
Mit diesen beiden schwerkranken Menschenkindern musste ich alle Nächte allein bleiben und sie pflegen, Horstel z. B.
stundenlang in der Nacht herumtragen, weil Anneliese und Helgard auf Anordnung des Kommandanten jeden Abend von
Russen abgeholt wurden, um unter militärischem Schutz mit drei anderen Frauen zusammen, die auch in der Schneiderstube
arbeiteten, vor den nächtlichen Belästigungen durchziehender Russen geschützt zu sein.
Am 27. April, morgens 8 Uhr, wurde Gertrud von ihren fuchtbaren Qualen durch den Tod erlöst. Wir mussten sie in ihren
Kleidern und mit ihrem Mantel in Sackleinwand einnähen und auf der Karre, die sie tapfer und ohne zu murren immer treu
und brav auf der Landstrasse vor sich her geschoben hatte, zum Kirchhof fahren und dort in das selbstgeschau-felte Grab
einbetten. Das war das Ende eines arbeitsamen, opfervollen und anspruchslosen Lebens einer Frau, die nur immer an ihre
Familie und an andere Leute, nie an sich selbst gedacht hat. Ihr ist viel Schlimmes, was uns Überlebenden noch
beschieden war, erspart geblieben - das ist der einzige Trost, der uns geblieben ist.
Mit uns zusammen waren u. a. viele Horster(12). Diese schickten in kurzen Abständen Kundschafter nach der Küste, um zu
sehen, ob nicht eine Rückkehr dahin möglich wäre. Nach etwa 4 Wochen kam die erlösende Nachricht: Wir können wieder
zurück, die Küstenorte sind wieder frei.
Die Horster machten sich zuerst auf den Weg. Am 1. Pfingstfeiertage gingen auch wir, mussten aber wieder zurückkehren,
da unser Handwagen ein Rad verlor. Wir hatten uns in Parpart wieder eine ganze Menge Sachen, auch Nahrungsmittel,
besonders eingewecktes Fleisch, zusammen-gehamstert,so dass wir reichlich Gepäck hatten. Deshalb ging ich am
Nachmittag zu Fuss nach Fischerkathen, um den Versuch zu machen, ein Fuhrwerk für unsere Heimreise zu bekommen, auch
um nach einer neuen Bleibe Umschau zu halten. Beides fand ich. Die Jungens von Fischer Kasten (die Männer waren noch
in russischen Arbeitslagern) hatten sich ein junges Pferd gegriffen und ein Fuhrwerk zusammengebaut. Sie wollten
unsere Sachen holen. Bei Erdmanns, in der leerstehenden Wohnung von Annelieses Schwägerin Magda, fand ich auch zwei
Wohnräume mit Küchenbenutzung für uns. Am 2. Pfingstfeiertag holte ich Anneliese, die Kinder und unsere Sache aus
Parpart ab. Glücklich, wieder in unserer neuen Heimat zu sein und bei lieben Menschen Unterkommen gefunden zu haben,
bezogen wir unsere neue Bleibe.
Am Haus war ein schöner Garten, und unsere Hauptbeschäftigung war nun, ihn zu bebauen, auch sonst für die kommende
Zeit, besonders für den Winter, zu sorgen. Leider konnten wir uns nur wenige Wochen hier unseres Daseins freuen.
Pommern war indessen polnisch geworden, und bald kam für uns neues Wandern und Sorgen. Nach ungefähr 4 Wochen trieben
uns die Polen alle aus dem Ort, um Platz zu schaffen für die einziehenden Zivilpolen,
und damit begann eine schreckliche Leidenszeit für uns. Wir wurden 3 Monate durch die
Kreise Greifenberg(13) und Cammin von
Arbeitslager
zu Arbeitslager gehetzt, absichtlich die schlechtesten Wege geführt, damit wir alles, was wir nicht transportieren
konnten, in den Strassengraben warfen, damit es von den nachziehenden Polen aufgelesen werden konnte. So
kamen wir,
wieder bettelarm, nach Dievenow(14), Hagen(15), Siedlung-Cammin und schliesslich nach
Alt-Tessin(16).
Dort war wieder ein längerer Aufenthalt.
Mit Erdmanns zusammen fanden wir ein Leer-Zimmer, schliefen auf dem Fussboden, den Rucksack als Kopfkissen benutzend,
und mussten dabei 14 Stunden am Tage Feldarbeit machen. Ich hatte mir auf der Flucht ein böses Bein und einen bösen
Zeigefinger an der rechten Hand, der auch später steif geblieben ist, geholt, und konnte daher keine schwere Feldarbeit
verrichten, sondern bekam eine Art Vertrauensposten als Verbindungsmann zwischen den Flüchtlingen und der Miltärbehörde,
hatte auch die Beaufsichtigung der Verpflegung. Trotz der schweren Arbeit, die die Leute hier verrichten mussten,
bekamen nur die arbeitsfähigen Männer und Frauen Brot und Mittag-Essen, Arbeitsunfähige, Kranke und Kinder bekamen
nichts. Wenn hier nicht in den verlassenen Gärten so unglaublich viel Obst, Johannisbeeren, Birnen und Äpfel, und in
den Wäldern nicht so unwahrscheinlich viel Pilze gewesen wären, hätten wir verhungern müssen. Am Morgen, auf dem Wege
zur Arbeit, steckten wir uns die Taschen voll Birnen und Äpfel und lebten den Tag über davon. Leider wurde das meiste
Obst schon abgepflückt, ehe es reif war. Schwere Darmerkrankungen waren die Folge davon. Meist arbeiteten von den 176
Menschen unseres Trecks nur einige 20. Auch bei uns war vielfach Krankheit, besonders Anneliese hatte viel mit Angina
zu tun. Da musste ich allein für die Ernährung der Familie sorgen.
Ich hatte bereits am Anfang dem das Lager führenden Leutnant, als er mir den obengenannten Posten übertrug, gesagt:
Ich fürchte, als einziger Intellektueller des Lagers das Vertrauen der Arbeiter und Bauern nicht zu besitzen und bitte
von meiner Wahl dieses Postens abzusehen. Er antwortete darauf: Sie besitzen mein Vertrauen, und das genügt. Es
genügte aber nicht und führte bald zu grossen Unannehmlichkeiten. Diese Leute, die Zeit ihres Lebens nichts anderes
getan haben, als die Obrigkeit bei Abgaben und Steuern zu betrügen, konnten nicht verstehen, dass jemand, der sozusagen
an der Krippe stand, das ihm geschenkte Vertrauen nicht missbrauchen wollte, um sein Amt nicht ehrlich und gerecht zu.
Eine Urlaubsreise des Leutnants benutzten sie, um mich bei dem ihn vertretenden Feldwebel zu verleumden, ich nehme mir
für mich und meine Familie mehr Brot, als mit zusteht. Mir kam das zu Ohren, und ich bat den Leutnant, mich durch einen
Mann aus dem Kreise dieser Leute abzulösen. Da ich bei dieser meiner Tätigkeit auch zuviel hinter die Kulissen geschaut
und gesehen hatte, wie auch der Leutnant, besonders seit seine Frau in Tessin war, Dinge gemacht hatte, bei der
Verteilung von Fleisch und Fischen, die sich nicht gehörten, war er scheinbar froh, mich auf diese Weise loszuwerden
und löste mich ab. Da sowohl ich als auch Anneliese nicht voll arbeitsfähig waren, wurden wir bei der nächsten
Gelegenheit mit dieser Begründung abgeschoben. Innerhalb einer halben Stunde mussten 21 Leute von uns, dabei auch wir,
packen und sich wieder auf die Wanderschaft machen. Wir glaubten erst, der Wegrichtung nach, es ginge nach Dievenow,
wo wir, wie viele vor uns, über die Oder abgeschoben werden sollten. Diese Wanderung war furchtbar: Sie ging bei
Dunkelheit und strömendem Regen los. Gegen 12 Uhr nachts kamen wir in stockdusterer Nacht in einem unbekannten Orte an,
wo wir uns 3 Stunden niederlegen konnten, natürlich wieder auf nacktem Fussboden in unseren nassen Kleidern. Noch ehe
die Sonne aufging, wanderten wir weiter in Richtung nach Cammin. Leider wurden wir durch Cammin hindurchgeführt und
landeten zu unserem gössten Schrecken wieder in der völlig verbrannten und zerstörten Siedlung-Cammin, die uns von
unserem ersten Aufenthalt her noch in grausamer Erinnerung war. Bei der Verteilung auf die zur Verfügung stehenden
Räumlichkeiten fragte der Lager-Kommandant, ein sehr vernünftiger Mensch, wer die Leute nach ihrem Zustand und
Eigenarten kennt. Ich meldete mich und gab ihm Auskünfte. Er wollte danach seine Verteilung einrichten. Das war unser
Glück! Der Mann erkannte, - er sprach übrigens gut Deutsch, denn er war aus Posen(17) - dass wir etwas anders geartet
waren als die anderen, liess uns beiseite treten und wies uns eine Wohnung von 1 Zimmer und 1 Kammer in einem der 3
noch einigermassen erhaltenen Häuser zu. Am anderen Tage suchte er uns dort auf, erkundigte sich nach unserer
Arbeitsfähigkeit und beschäftigte darauf Anneliese in der Küche als Kartoffelschälerin, und mich schickte er zu
leichterer Arbeit auf den Pionierplatz nach Cammin. Das war wieder ein grosses Glück, denn Anneliese blieb dadurch in
der Nähe ihrer Kinder, konnte hin und wieder zum Rechten sehen, und ich lernte dort unsreren späteren Gönner und
Beschützer kennen. Am zweiten Tage meiner Tätigkeit auf dem Pionierplatz kam nämlich der leitende Leutnant auf den
Platz, sah mich mit meiner kranken Hand mit der Schaufel hantieren, trat an mich heran und fragte mich, was ich da
hätte. Ich musste ihm meinen kranken Zeigefinger zeigen, zu dem noch durch einen Wagenunfall in Tessin ein gebrochener
Mittelfinger hinzugekommen war. Darauf schickte er mich heim, rief mich aber noch einmal zurück, und fragte mich woher
ich wäre und was ich von Beruf sei. Als ich ihm sagte, dass ich aus Berlin bin und dass mein Beruf Musiker sei, war er
hocherfreut und sagte: Oh, sehr gut, heute Nachmittag kommt Soldat und holt sie ab, sie mir vorspielen. Als ich darauf
erwiderte, ich könnte doch mit der kranken Hand nicht spielen, sagte er: Noch 3 gute Finger an der Hand, mit denen
spielen. Ich dachte, na schön, du machst eben so gut du kannst. Tatsächlich kam gegen 3 Uhr der Soldat, holte mich ab
und führte mich zu dem Leutnant. Dort waren noch ein anderer Leutnant und 2 Damen versammelt. Ich spielte eine freie
Phantasie so gut ich konnte. Die Leutchen waren begeistert, ich war es weniger. Gross war mein Erstaunen, als der
Leutnant sagte: Sie mir Klavierunterricht geben, ich will spielen lernen. Jeden Tag 1 Stunde, nichts weiter arbeiten.
Meine Freude war gross. Am anderen Tage ging die Stundengeberei los. Das ganze war ein Witz. Er verstand wenig Deutsch,
hatte grossen Eifer, aber weder Zeit noch Lust zu üben. Jede Stunde etwas Neues, nur nicht wiederholen oder üben. Ich
bekam aber nach jeder Stunde ein gutes Essen und von der Hausdame - übrigens einem prachtvollen Menschenkind, das die
Schreckenstage in Warschau durchgemacht hatte, dort von einer deutschen Familie geschützt worden ist und sich aus
Dankbarkeit dafür an uns revanchieren wollte - für Anneliese und ihre Kinder manchmal selbstgebackenen Kuchen, auch
Wurst oder ein Ei.
Zu unserem Unglück verreiste der Lagerleiter in der Siedlung zu seiner Familie nach Posen. Wieder war es, wie in Tessin,
der uns nicht wohlwollende Vertreter, der sich ärgerte, dass ich auf der Siedlung nicht zu arbeiten brauchte und dessen
Verhältnis seinerzeit für Annelieses Posten in der Küche ihren Platz hatte räumen müssen, der sich nun an uns dafür
rächen wollte und die Gelegenheit einer Untersuchung nach arbeitsunfähigen Leuten dazu benutzen wollte, uns auch hier
wieder abzuschieben. Glücklicherweise erfuhr ich das rechtzeitig und lief schnell zu meinem Gönner nach Cammin, um ihm
das zu berichten. Er liess mich nicht wieder zurück und holte spät abends noch Aneliese, die Kinder und unsere Sachen
mit einem Fuhrwerk heimlich nach Cammin-Stadt und versteckte uns dort in einem abgelegenen Häuschen 3 Tage, bis die
Gefahr vorüber war. Dann gab er uns Unterkunft in einem kleinen Siedlungshaus, das er sich für seine Mutter und
Schwester, die er erwartete, angeeignet hatte. Fast jeder polnische Offizier besass dort so ein Haus. Dort lebten wir
nun verhältnismässig ruhig und gut. Wir wurden aus der Militärküche verpflegt, ich gab meine Klavierstunden weiter,
und Anneliese musste dem Leutnant und seiner Hausdame Tanzunterricht erteilen.
Wir hatten bereits während unseres zweiten Aufenthaltes in Fischerkathen den Versuch gemacht, von der polnischen
Kommandantur die Erlaubnis zur Rückkehr nach Berlin zu erhalten. Wir konnten damals meines Beinleidens wegen den Plan
nicht ausführen. Jetzt hier in Cammin nahm ich ihn energisch wieder auf mit Hilfe der sehr gut deutsch sprechenden
Hausdame des Leutnants. Mit ihrer Hilfe gelang es mir, trotz des offiziellen Auswanderungsverbotes, weil die
Feldarbeiten noch nicht beendigt waren, die Erlaubnis des Leutnants und der polnischen und russischen Kommandantur zu
erhalten.
Hier eine Zwischenbemerkung: Die polnischen Soldaten und Offiziere waren tadellose Menschen und behandelten uns
Deutsche in den meisten Fällen sehr gut, das lag besonders an Folgendem: Obgleich Pommern von den Polen besetzt war,
waren die eigentlichen Beherrscher doch nach wie vor die Russen, und das Verhältnis zwischen Russen und Polen war sehr
schlecht. Die Polen wurden von den Russen genauso ausgeplündert wie wir Deutschen. Die polnischen Offiziere der
höheren Grade waren alles Russen in polnischer Uniform, und ein polnischer Leutnant stand fast vor einem russischen
Unteroffizier stramm. Die Polen hofften damals schon auf eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Alliierten
und den Russen und rechneten dabei mit einer Unterstützung der Deutschen. Die Polen waren auch deshalb in Pommern in
einer so unglücklichen Lage, weil die Russen ihnen ein entsetzliches Erbe hinterlassen hatten. Wir haben auf unseren
ganzen Wanderungen durch die Kreise Greiffenberg und Cammin nicht einen Ort gesehen, und wenn es das entlegenste
Walddorf war, der nicht völlig zerstört gewesen wäre. Vieh und Ackergeräte waren nirgends zu sehen; Pommernland war
abgebrannt! Ein furchtbares Gesindel, der Abschaum der Menschheit, aber waren die in die verlassenen Orte einziehenden
Zivilpolen. Die raubten und plünderten wo sie konnten, am liebsten und am meisten bei uns Deutschen.
Eines fabelhaften Offiziers muss ich noch gedenken: Bei meiner regelmässigen Behandlung im Militärkrankenhaus lernte
ich den Apotheker kennen, der auch gut Deutsch sprach und sich meiner rührend annahm. Ich erhielt von ihm alle
Medikamente, die ich von ihm erbat, selbst Sachen, die er sonst niemandem gab, da es auch bereits Raritäten waren. Als
ich mich von ihm verabschiedete, fragte er mich, ob ich genügend Geld für die Rückfahrt hätte, da ich damit rechnen
müsste, dass ich trotz des Erlaubnisscheines der Kommandantur für mich und meine Familie die Fahrkarten bezahlen müsste.
Als ich ihm sagte, dass ich bereits von meinem Leutnant 200 Zloty erhalten habe, sagte er: Das langt nicht, hier nehmen
Sie noch die 500 Zloty. Wenn Sie sie nicht gebrauchen, können Sie sie mir ja gelegentlich zurückschicken. Ich weigerte
mich zuerst, das Geld zu nehmen, er drängte es mir aber direkt auf. Nicht einmal eine Quittung wollte er dafür. Ob das
ein Deutscher auch getan hätte? Natürlich gab ich ihm eine Quittung. Ich habe das Geld nicht gebraucht, konnte es ihm
aber bisher noch leider nicht zurücksenden. Ich hebe es auf, vielleicht findet sich noch eine Gelegenheit dazu.
Wie verabredet, schickte mein Leutnant am 7. Oktober 1945 frühzeitig einen zweispännigen Wagen und fuhr uns 32 km bis
zur nächsten Bahnstation. Der Name ist mir entfallen, seine Hausdame Maria gab uns noch den Rat, nicht in ein Abteil zu
steigen, in dem sich keine polnischen Soldaten befanden, da sonst die Gefahr bestehe, von Russen oder polnischen
Zivilisten ausgeplündert zu werden. Sie und der Leutnant verabschiedeten sich äusserst herzlich von uns und gaben uns
ihre besten Wünsche mit. Es ist uns richtig schwergefallen, uns von diesen wahrhaft edlen Menschen zu trennen. Und
doch waren wir glücklich, endlich im Zuge zu sitzen und heimwärts fahren zu können. Unterwegs nahmen wir einen zu Fuss
nach der Bahnstation wandernden polnischen Offizier auf, der uns auch zuerst auf der Fahrt Beistand und Schutz
gewährte. In Plathe(9), einem Eisenbahnknotenpunkt, stieg eine solche Menge Menschen ein, dass alle Deutschen den Zug
verlassen mussten, um den Polen und Russen Platz zu machen. Wir mussten auf den nächsten Zug warten, der leider aber e
rst 4 Stunden später abfuhr. Das war die erste grosse Enttäuschung, die wir auf unserer Heimfahrt erlebten. Es war
auch die erste der vier grausigen, auf freiem Bahnsteig verlebten kalten Oktobernächte. Es sollte aber noch schlimmer
kommen. Als wir den Zug wieder besteigen wollten, wurden alle Deutschen in die hintersten leeren Güterwagen geschickt.
Was sich für Elend da zusammenfand, aus Pommern, West- und Ostpreussen, ist nicht zu beschreiben. Als wir in die Nacht
hineinfuhren, hörten wir des öfteren, wenn der Zug auf einer Station hielt, aus den anderen Wagen furchtbares Geschrei
von Frauen und Kindern, dessen Ursache wir uns erst nicht erklären konnten, bald aber am eigenen Leibe erfuhren.
Eisenbahn-Banditen in Trupps von 5-6 bewaffneten Männern drangen auf der Fahrt bis Scheune(18) bei Stettin dreimal auch in
unseren Wagen ein und raubten uns alles Gepäck, auch unsere drei Rucksäcke und unseren Lebensmittelsack. Sie warfen,
ohne zu untersuchen, was darin ist, alles zum Fenster hinaus, wo es von anderen Komplizen aufgesammelt wurde. Die
letzten nahmen uns auch die Mäntel, mir das Jackett und wollten mir sogar die Schuhe ausziehen. Als ich mich dagegen
wehrte, schlug mir einer dieser Banditen mit dem Pistolenknauf den Schädel blutig, so, dass ich die ersten 3 Wochen in
Berlin in ständiger Behandlung war und einen grossen Verband tragen musste. Die Stiefel habe ich aber wenigstens
gerettet. So kamen wir völlig ausgeraubt, ohne vor Nässe und Kälte schützende Bekleidung, ohne Nahrungsmittel in
Scheune an. Anneliese und Helgard war es mit Hilfe eines russischen Offizers wenigstens dort gelungen, sich einige
Stunden im Wartesaal aufhalten zu können, der sonst für Deutsche gesperrt war. Horstel lag in seinem Wagen warm und
geschützt, ich musste bei ihm Wache halten. Ein aus dem Gefangenenlager entlassener deutscher Soldat hatte Mitleid mit
mir und lieh mir seine Decke, die mich etwas vor Nässe und Kälte schützte. Am anderen Morgen gelang es uns, mit einem
Güterzug weiter nach Angermünde zu fahren. Auf einem offenen Güterwagen konnte endlich nach etwa 24 Stunden Anneliese
den lieben geduldigen Buben notdürftig säubern. In Angermünde hatten wir grosse Schwierigkeiten weiterzukommen. Hier
sollte um die Erlaubnis zur Weiterfahrt nach Berlin bei der russischen Kommandantur nachgesucht werden. Da meine
Versuche, diese Erlaubnis zu erhalten, vergeblich waren, machten wir, wie viele andere, den Versuch auf illegale
Weise, indem wir auf einem Umweg auf den Bahnsteig gingen. Ein auf einem Nebengleis stehender Güterzug, dessen Abfahrt
nach Eberswalde uns ein Bahnbeamter verriet, wurde wieder heimlich bestiegen, und nach etwa 2 Stunden merkten wir,
dass er fuhr. Wohin, wussten wir nicht sicher, wir hofften aber, dass er die Richtung Berlin nimmt. In der Tat kamen
wir auch nach einigen Stunden in Eberswalde an, wo wir den Zug wieder verlassen mussten. Hier hiess es nun zu unserem
Schrecken, dass vorläufig an eine Weiterfahrt nach Berlin nicht zu denken sei, vielleicht in 2-3 Tagen. Es kam
glücklicherweise besser, als wir befürchtet hatten: Nach etwa 10 Stunden verbreitete sich unter den Flüchtlingen das
Gerücht, dass wieder ein Güterzug nach Berlin fährt. Glücklicherweise bestätigte sich das Gerücht, bei strömendem Regen
trafen wir gegen 11 Uhr nachts am 11. Oktober 1945 auf dem Stettiner Bahnhof in Berlin ein. Der Bahnhof war mit
tausenden von Flüchtlingen angefüllt. In einer einigermassen geschützten Ecke fanden wir auch noch ein kleines
Plätzchen. Hier, zwischen all dem furchtbaren Elend, kam bei Anneliese, die bisher alles so bewundernswürdig tapfer
getragen hatte, eine starke Reaktion, sie bekam einen furchtbaren Weinkrampf, weil sie fürchtete, dass wir niemanden
von unseren Angehörigen antreffen würden und keine Bleibe hätten. Da kam mir der Gedanke, sobald der Morgen graut, zu
meinem in der Nähe des Stettiner Bahnhofs wohnenden Sangeskameraden Strassenburg nach der Brunnenstrasse zu gehen, zu
sehen, ob er noch lebt und ob er etwas von Wolfgang weis. Das beruhigte Anneliese etwas, und wir konnten den Morgen
nicht erwarten. Helgard, die bereits fieberkrank in Cammin abgefahren war, war in einem entsetzlichen Zustand. Es
konnte einem das Herz bluten, wenn man sah, wie das arme Kind litt, es aber nicht merken lassen wollte, weil sie den
Kummer ihrer armen Mutter sah. Gegen 7 Uhr machte ich mich auf den Weg zu Strassenburg. Mir fiel der erste Stein vom
Herzen, als ich merkte, sein Haus steht noch, und als er auf meinen Ruf am Fenster erschien. Er erkannte mich zuerst
nicht, da ich ja seit Monaten bereits einen Vollbart trug, weil ich keine Gelegenheit hatte, mich dort oben in den
Arbeitslagern zu rasieren. Str. kam sofort herunter und ging mit mir zum Bahnhof, um Anneliese und die Kinder zu holen.
Die Leutchen wussten nicht, was sie uns in ihrer Freude, uns wiederzusehen, alles Gutes antun sollten. Wir konnten uns
endlich wieder einmal säubern und stärken. Helgard wurde auf das Sofa gebettet, und wir ruhten uns erst alle etwas aus.
Was uns unsere letzten Kräfte wiedergab, war die Mitteilung, dass Strassenburg vor ein paar Tagen erst am
Reichskanzlerplatz war und von Greta erfahren hatte, dass Wolfgang gesund ist und wieder seine Praxis ausübt. Wir
machten uns deshalb bald auf, um mit der U-Bahn zu ihm zu fahren. Helgard konnte fast nicht mehr vorwärts kommen, und
auch Anneliese fiel es sehr sehr schwer, aber die Hoffnung, unsere Lieben endlich wiederzusehen, gab uns die letzten
Kräfte zurück. Den Empfang dort richtig zu schildern, ist mir nicht möglich.
Wie rührend, besonders Wolfgang, nun in der Folgezeit für uns gesorgt hat, lässt sich kaum mit Worten ausdrücken.
Durch Wolfgangs Beziehungen bekamen wir auch bald ein Unterkommen in der Reichsstrasse, nachdem wir erst in seiner
Wohnung, die ja auch stark gelitten hat und beengt ist, einige Tage untergebracht waren. Leider erkrankte Helgard
immer mehr und der behandelnde Arzt stellte Typus-Verdacht fest. Da auch Anneliese wieder sehr über ihr krankes Bein
klagte - eine Krankheit, die in den Flüchtlingskreisen sehr verbreitet war - und auch sonst Beschwerden fühlte, die
denen der Helgard sehr verwandt waren, erklärte Anneliese, dass sie mit Helgard ins Krankenhaus gehe. Nach 3 Wochen
bekam Anneliese, die tatsächlich ebenso wie Helgard den Typhus mitgebracht hatte, auch noch Nasen- und Rachen-Dyphtherie
dazu. Acht Tage schwankte ihr Zustand zwischen Leben und Tod. Am 12. November, nach einem Sonntag, an dem mir die
Oberschwester freudestrahlend erklärt hatte, sie hätte die Krisis glücklich überstanden, versagte in der Nacht darauf
das Herz, und sie ist, ohne es zu merken, sanft in die Ewigkeit hinübergeschlummert. Das war der schwerste Schlag, der
mich getroffen hat. Alles hat sie mit einer Seelengrösse getragen, die wir immer an ihr bewundert haben. Nun war sie
nach all dem Schweren, was sie durchgemacht hatte, glücklich wieder ind der Heimat angekommen und hoffte, bald auch
hier ihren Siegfried wiederzusehen, und nun musste sie von uns gehen und uns mit ihren Kindern allein lassen. Am 17.
November wurde sie auf dem herrlich gelegenen Waldfiedhof an der Heerstrasse feierlich beigesetzt. Helgard durfte das
Krankenhaus immer noch nicht verlassen und bei ihrem Zustand auch nichts von dem Tode ihrer Mutter erfahren. Nach 4
Wochen erst wurde sie entlassen und von mir und Inge, die es übernommen hatte, Helgard bei sich aufzunehmen, und bis
zur Ankunft Siegfrieds ihre Betreuung auf sich zu nehmen, abgeholt. In Steglitz angekommen, haben wir beide ihr die
schwere Mitteilung vom Tode ihrer lieben Mutti gemacht. Sie konnte natürlich die ganze Grösse dieses traurigen
Schicksals nicht erfassen, hat aber herzzerbrechend geweint und erst ganz allmählich sich beruhigt. Inge versteht es
ausgezeichnet, sie so zu beschäftigen und zu behandeln, dass sie sich überraschend schnell dort eingelebt hat. Viel
trägt dazu bei der Umgang mit dem kleinen Hartmut und ihr Besuch der dortigen Schule.
Horstel, der von all dem noch nichts merkt, ist bei Wolfgang und Greta in denkbar besten Händen und hat sich dort
völlig eingelebt. Er ist der Liebling seiner ganzen Umgebung geworden.
Ich zog nun mit der notwendigsten Ausstattung - 1 Couch, 1 Tisch, 2 Stühle - in die leere Wohnung in der Reichsstrasse,
machte mir meistens mein Frühstück allein und ging mittags und abends zu Wolfgang essen.
Ich musste mich dabei natürlich an Dinge gewöhnen, die mir sehr schwer wurden. Ich hatte nicht viel Zeit, über mein
trauriges Schicksal nachzudenken, denn es gab hunderterlei Gänge, die nötig waren, um mein neues Leben zu gestalten.
Natürlich versuchte ich zuerst, wieder einen Erwerb zu finden, d. h. Beschäftigung im Schuldienst. Professor Neiss
hatte im sogenannten Charlottenburger Gymnasium den Schulbetrieb unseres ehemaligen Kaiserin Augusta Gymnasiums
fortgesetzt. Zu ihm ging ich zuerst. Da natürlich bereits alle Posten besetzt waren, dauerte es lange, eher er auch
für mich eine Anstellung erreichen konnte. Mein Alter war natürlich auch ein Hinderungsgrund; ein Glück war es, dass
ich nicht PG war. Nach einigem ungeduldigen Warten wurde ich endlich wieder mit 12 Wochenstunden Musik beschäftigt.
Nun zwangen mich die Verhältnisse, auch etwas an meine eigene Lage zu denken, und auch auf Zureden meiner Kinder
entschloss ich mich, wieder zu heiraten. Ich brauchte nicht lange zu suchen, denn ich kannte ein Menschenkind, das
schnell und gern bereit war, mir in meiner traurigen Lage Hilfe und Beistand zu sein, eine alte Bekannte meiner
Familie, Erna Steller. Am 21. Dezember 1946 war die Trauung, und ich hatte endlich wieder einen Menschen um mich, der
nicht nur rührend für mich sorgt, sondern auch Verständnis und Interesse für meine künstlerische Tätigkeit hat, denn
sie war bereits seit vielen Jahren meine treue Mitarbeiterin.
Nun ging ich auch daran, meine künstlerische Tätigkeit wieder aufzubauen. Zunächst sammelte ich meine treuen
Sängerinnen und Sänger um mich, ich rief sie - und Alle, Alle kamen. Wir fingen wieder an, in altgewohnter Weise
zunächst in einem Lokal in der Neuen Kantstrasse zu singen.
Ich war indessen Mitglied der Kammer der Kunstschaffenden geworden und hatte mich über die Verhältnisse auf dem
Gebiete des Chorgesangs informiert. Mit Hilfe der neueingerichteten Amtsstelle "Neues Leben" gelang es mir, nach
schwierigen Kämpfen - meine frühere Tätigkeit als Gauchorleiter im Deutschen Sängerbund war ein schwerbelastendes
Moment - die Einwilligung der Gründung des Bezirks-Männerchores Charlottenburg und seine Leitung zu erhalten. So hat
sich also langsam meine Lage geklärt und gebessert, und ich hoffe, noch einige Jahre ruhig und erfolgreich leben und
wirken zu können, zumindest hoffe ich, es noch zu erleben, dass ich meinen lieben Jungen Helmuth und unseren lieben
Siegfried noch einmal gesund wiedersehe.
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